Atomen und Elektronen bei der Arbeit zugeschaut

03.09.2018 - Deutschland

Welche Eigenschaften Materialien haben, wird durch ihre atomare Struktur bestimmt. Verändern Atome und Elektronen ihre Anordnung, ändern sich auch die Merkmale eines Materials. Welche komplexen Prozesse dabei ablaufen, untersucht eine Arbeitsgruppe der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel (CAU) anhand eines einzigartigen Materials: Tantaldisulfid. Auf die Herstellung dieses Schichtkristalls ist die Kieler Gruppe spezialisiert, ihre Proben dienen Forschungsteams weltweit als Grundlage für Experimente zu dynamischen Prozessen in Materialien. Gemeinsam mit den Universitäten Göttingen, Duisburg-Essen und Aarhus sind kürzlich gleich drei Studien basierend auf Tantaldisulfid aus Kiel erschienen, die bisher unbekannte Phänomene in der Bewegung von Elektronen und Atomen aufzeigen. Die Ergebnisse könnten langfristig zum Beispiel darüber Aufschluss geben, wie diese Bewegungen gesteuert und somit Eigenschaften von Materialien gezielt geändert werden könnten

© Matthias Kalläne

Eine Art „Kristall-Sandwich“: Zwischen zwei Schichten aus Schwefelatomen (rot) liegt eine Schicht des metallischen Tantals (grau).

Eine Drosophila der Materialphysik

Es ist ein ebenso einzigartiges wie einfaches Material, mit dem Wissenschaftler mehr über das vielfältige Verhalten von Elektronen und Atomen herausfinden wollen. „Tantaldisulfid ist ein eigener Nanokosmos, unglaublich reich an quantenphysikalischen Phänomenen“, schwärmt Kai Roßnagel, Professor für Festkörperforschung mit Synchrotronstrahlung an der CAU und Leitender Wissenschaftler am Deutschen Elektronen-Synchrotron (DESY). „Das bietet uns schier unerschöpfliche Untersuchungsmöglichkeiten.“ Wird es zum Beispiel gekühlt oder Lichtblitzen ausgesetzt, ordnen sich seine Atome und Elektronen neu an. Das Material wird so vom Stromleiter zum Isolator oder umgekehrt.

Mithilfe des speziellen Schichtkristalls wollen Roßnagel und seine Kollegen zum einen besser verstehen, wie solche besonderen Materialeigenschaften entstehen. Zum anderen wollen sie herausfinden, wie und wie schnell sich Eigenschaften ändern lassen. Hier kommt ihnen der einfache schichtartige Aufbau des Tantaldisulfids zugute. Er ermöglicht es, quantenphysikalische Phänomene einfacher zu interpretieren. „Tantaldisulfid eignet sich deshalb hervorragend als Referenzmaterial für die Festkörperphysik. Hier gewonnene Erkenntnisse lassen sich auch auf andere Materialien übertragen“, so Roßnagel. „Für die Materialphysik ist es gewissermaßen das, was die Drosophila-Fliege für die Biologie ist.“

Schichtkristalle aus Kiel: Internationales Markenzeichen in der Nanoforschung

Bei Tantaldisulfid handelt es sich um eine Art „Kristall-Sandwich“: Zwischen zwei Lagen aus Schwefelatomen befindet sich eine Schicht des metallischen Tantals. Zusammen sind sie gerade einmal einen halben Nanometer dick. Mehrere der dreilagigen Stapel übereinander bilden schließlich den Schichtkristall. In Roßnagels Arbeitsgruppe bündeln sich über 35 Jahre Erfahrung in der Herstellung und Analyse des begehrten Untersuchungsmaterials. Die hochreinen chemischen Ausgangsstoffe Tantal und Schwefel werden in eine Quarzampulle gegeben und ihre beiden Enden anschließend in einem Spezialofen unterschiedlich stark erhitzt. So wachsen in sechs bis acht Wochen die mehrschichtigen Kristalle in der Ampulle heran.

In den vergangenen Jahren haben sich die Proben des Kieler Tantaldisulfids zu einem Markenzeichen in der internationalen Nanoforschung entwickelt. Aufgrund ihrer Qualität beziehen Forschungsgruppen weltweit die Kristalle für ihre Experimente aus Kiel. Durch die Diskussion ihrer Ergebnisse mit den Experten der CAU sind zahlreiche Forschungskooperationen und gemeinsame Publikationen zu den Proben aus Kiel entstanden. Zuletzt sind gleich drei Studien in kurzer Zeit erschienen. Sie alle beschäftigen sich mit der Frage, wie sich Elektronen und Atome in Tantaldisulfid verhalten und damit die Funktion des Materials beeinflussen.  

Neue Studien zeigen bisher unbekannte Bewegungsphänomene auf atomarer Ebene

In einer Kooperation mit der Universität Aarhus untersuchten die Wissenschaftler, wie sich Elektronen innerhalb eines Tantaldisulfid-Kristalls bewegen. In Spektroskopie-Experimenten bei niedrigen Temperaturen stellten sie fest, dass ihre Beweglichkeit zwischen den Schichten deutlich höher war als entlang der Schichten. „Dass die einzelnen Schichten gewissermaßen ‚miteinander sprechen‘ und Strom leichter senkrecht zwischen den Schichten fließt, hat uns überrascht“, ordnetFestkörper- und Oberflächenphysiker Roßnagel die Ergebnisse ein.

Warum die Elektronen bei tiefen Temperaturen innerhalb einer Schicht Tantaldisulfids so unbeweglich sind, untersuchte das Kieler Team zusammen mit Kollegen von den Universitäten Duisburg-Essen, Hamburg und dem schweizerischen Fribourg. Sie setzten von außen freie Elektronen auf eine Schicht Tantaldisulfid. Da an allen Atomen bereits ein Elektron gebunden ist und sich elektrisch negativ geladene Elektronen gegenseitig abstoßen, „hüpften“ die Elektronen von Atom zu Atom. In ihren Experimenten konnten die Wissenschaftler messen, wie lange ein Elektron dafür benötigt. „Wir konnten damit zum ersten Mal explizit nachweisen, warum der Stromfluss an dieser Stelle unterbunden wird: Die Elektronen stehen sich quasi selbst im Weg.“

In einer Studie mit der Universität Göttingen untersuchten die Wissenschaftler schließlich den Ablauf ultraschneller Strukturumwandlungen in Tantaldisulfid. Dank einer neuen Methode aus Göttingen konnte die atomare Umordnung in Super-Zeitlupe aufgenommen werden: Die schlagartig aus ihrer regelmäßigen Formation getriebenen Atome fanden ihre Position in der neuen Struktur erst allmählich über zunächst vereinzelte geordnete Bereiche, die langsam größer wurden und zusammenwuchsen.

Langfristig ultraschnelle Transistoren denkbar

Noch ist Tantaldisulfid ein Material aus der Grundlagenforschung, doch grundsätzlich sind damit neue elektronische Bauteile denkbar. „Letztendlich ist Tantaldisulfid ein Schalter. Eines Tages wäre damit ein ultraschneller Transistor möglich“, so Roßnagel. In Zukunft will er die Prozesse in dem Schichtkristall mit dem Hochleistungsröntgenlaser European XFEL in Echtzeit beobachten. „Mit jeder neuen Messmethode machen wir in dem Material neue Entdeckungen. Hier werden wir den Atomen zusammen mit den Elektronen gewissermaßen live bei der Arbeit zuschauen.“ Als Sprecher eines internationalen Konsortiums leitet Roßnagel zurzeit den Aufbau eines Experiments für ultraschnelle Spektroskopie im norddeutschen Schenefeld auf. Für 2019 sind die ersten Versuche geplant. Sie sollen dazu beitragen, das Verständnis des Nanokosmos entscheidend zu erweitern.

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