Bahnbrechende Organoid-Technologie findet Krankheits-Gene im menschlichen Gehirn
CRISPR LICHT - Scheinwerfer statt Zündholzer
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Die menschliche Gehirnentwicklung ist einer der komplexesten Prozesse der Biologie: Am Anfang stehen nur wenige Zellen, die im Zuge der Entwicklung eine unglaubliche Vielzahl an Nachkommen hervorbringen - im erwachsenen Gehirn sind es rund 87 Milliarden Nervenzellen, die uns denken und fühlen lassen und uns zu dem machen, was wir sind. Fehler während dieser Entwicklung können im Gehirn besonders schwerwiegende Folgen haben. Gehirnerkrankungen wie Epilepsie, Autismus oder Schizophrenie sind meist genetisch bedingt, doch bislang hatte die Wissenschaft keine Methodik, um die zugrundeliegenden Mutationen systematisch zu untersuchen.
Ein wichtiger Meilenstein war 2013 die Entwicklung der sogenannten Hirnorganoide im Labor von Jürgen Knoblich am IMBA. Dabei handelt es sich um Zellkulturen, die ausgehend von Stammzellen individueller Patienten den Aufbau eines menschlichen Gehirns sowie die Krankheitsentstehung erstaunlich genau widerspiegeln. Seitdem kommen die Organmodelle aus (iPS)Stammzellen weltweit zum Einsatz, um neurologische Krankheiten im menschlichen Zellverband zu studieren. Bislang gab es jedoch keine Möglichkeit, Gehirnorganoide systematisch nach Genen zu durchsuchen, die für Erkrankungen des Gehirns verantwortlich sind. In dem neuen Artikel berichtet das Knoblich-Labor über eine neue Technologie mit deren Hilfe nun Hunderte von Genen unter die Lupe genommen und parallel auf ihre Mitwirkung bei Erkrankungen untersucht werden können.
CRISPR LICHT - Scheinwerfer statt Zündholzer
Die neue Methode namens CRISPR-LICHT (Lineage Tracing at Cellular resolution in Heterogenous Tissue) erlaubt es den Forschenden erstmals, Hunderte von Mutationen in Gehirnorganoiden gleichzeitig zu erzeugen und parallel ihre Wirkung auf die Entwicklung bestimmter Zellpopulationen im Gehirn zu untersuchen. „Unser Ansatz kombiniert die Genschere CRISPR-Cas9 mit einer doppelten Barcoding-Methode, bei der wir jede Zelle im Organoid und die Zellen, von denen sie abstammt mit einer einzigartigen genetischen Adresse versehen. So erschließt sich für uns eine Art ´Zell-Stammbaum´, und wir können feststellen, welchen Ursprung die Zellen in einem Organoid haben. Durch die CRISPR-Cas9- Methode erzeugen wir nun Mutationen in diesen Organoiden und untersuchen, wie sich dieser Stammbaum dadurch verändert,“ so Co-Erstautor und IMBA-Doktorand Dominik Lindenhofer über die neue Methode.
In Zusammenarbeit mit der Medizinischen Universität Wien untersuchte das Team mit der neuen Methode die Mikrozephalie, eine genetische Störung, bei der Patienten schwere Entwicklungsstörungen erleiden, weil das Gehirn nicht zur richtigen Größe heranwächst. Dank der neuen Screening Methode konnten das Team feststellen, dass ein bestimmter Signalweg in den Proteinfabriken der Zelle, dem sogenannten Endoplasmatischen Retikulum, für das gesunde Wachstum im Gehirn ausschlaggebend ist. Kommt es hier zu einem Defekt, bilden bestimmte Nervenzellen weniger Zell-Nachkommen und das Gehirn bleibt zu klein. „Dank unserer Organoid-Screens ist es uns möglich, das Gehirn – schneller als je zuvor – nach Gendefekten zu durchleuchten. Das ist, als ob wir bisher versucht hätten, eine dunkle Höhle mit einzelnen Zündhölzern auszuleuchten und nun auf einmal einen Scheinwerfer haben,“ vergleicht Christopher Esk, Co-Erstautor und Postdoktorand am IMBA.
Von Fliegen inspiriert
Genetische Screens an der Fruchtfliege sind in der modernen Biologie ein bewährtes Werkzeug für genomweiten Analysen und haben in Wien Tradition. Die vom IMBA mitentwickelte „RNAi Library“ am Vienna BioCenter ist die größte Fliegensammlung weltweit, um die Funktion von Genen zu untersuchen. Auch Jürgen Knoblich, Letztautor der aktuellen Studie hat seine Wurzeln in der Fliegengenetik und erlangte dank der Fruchtfliege wichtige Erkenntnisse über die Rolle von Stammzellen für die Gehirnentwicklung. „Dass wir genetische Screens nun auch direkt an menschlichem Gewebe durchführen können, ist das ein enormer Fortschritt, um ´typisch menschliche´ erbliche Erkrankungen des Gehirns zu untersuchen. Als nächstes wollen wir mit unserer Methode jene Gene unter die Lupe nehmen, die mit Autismus-Spektrum-Störungen in Verbindung stehen könnten,“ lässt Jürgen Knoblich ausblicken.
Originalveröffentlichung
Esk, Lindenhofer et al.; "A human tissue screen identifies a regulator of ER secretion as a brain size determinant"; Science; 2020