Ein Mikroskop für alle

Quelloffenes System kommt aus dem 3D-Drucker und liefert so hochauflösende Bilder wie kommerzielle Mikroskope, die hundertmal so viel kosten

27.11.2020 - Deutschland

Moderne Mikroskope, die biologische Prozesse sichtbar machen, kosten viel Geld, stehen in spezialisierten Laboren und erfordern hoch qualifiziertes Personal. Damit neue, kreative Ansätze für drängende wissenschaftliche Fragestellungen zu erforschen — zum Beispiel im Kampf gegen Infektionskrankheiten wie Covid-19 —, ist vor allem Wissenschaftlern an gut ausgestatteten Forschungseinrichtungen in reichen Ländern vorbehalten. Ein junges Forschungsteam vom Leibniz-IPHT, der Friedrich-Schiller-Universität und dem Universitätsklinikum Jena will das ändern: Die Forschenden haben einen optischen Baukasten entwickelt, mit dem sich für wenige Hundert Euro Mikroskope bauen lassen, die so hochauflösende Bilder liefern wie kommerzielle Mikroskope — aber nur ein Hundertstel oder Tausendstel soviel kosten. Mit quelloffenen Bauplänen, Komponenten aus dem 3D-Drucker und Smartphone-Kamera lässt sich das Baukasten-System UC2 (You. See. Too.) so kombinieren, wie die Forschungsfrage es erfordert — von der Langzeitbeobachtung lebender Organismen im Inkubator bis zum Einsatz in der Optik-Ausbildung.

Leibniz-IPHT

So leistungsfähig wie ein kommerzielles, so handlich wie ein Spielzeug-Mikroskop: Das UC2-Entwicklerteam Benedict Diederich, René Lachmann und Barbora Maršíková (von links) mit einem aus ihrem optischen Baukasten UC2 zusammengestellten Mikroskop.

Grundbaustein des UC2-Systems ist ein 3D-druckbarer Würfel mit einer Kantenlänge von 5 Zentimetern, in den Komponenten wie Linsen, LEDs oder Kameras eingebaut werden können. Mehrere solcher Würfel werden auf eine magnetische Raster-Grundplatte gesteckt. Geschickt angeordnet, entsteht aus den Modulen so ein leistungsfähiges optisches Instrument. Ein optisches Konzept, bei dem Brennebenen aufeinanderfolgender Linsen aufeinander fallen, ist Grundlage der meisten komplexen optischen Aufbauten, so auch modernen Mikroskopen. Mit dem UC2-Baukasten macht das Forschungsteam von Promovierenden der Arbeitsgruppe Mikroskopie von Prof. Dr. Rainer Heintzmann vom Leibniz-IPHT und der Universität Jena dieses inhärent modulare Verfahren praktisch erfahrbar. So gibt UC2 auch Nutzenden ohne technische Ausbildung ein optisches Werkzeug an die Hand, das sie verwenden, umändern und erweitern können — je nachdem, was sie erforschen.

Krankheitserreger beobachten — und dann das kontaminierte Mikroskop recyceln

Helge Ewers, Professor für Biochemie an der Freien Universität Berlin und der Charité, nutzt den UC2-Baukasten, um Krankheitserreger zu untersuchen. „Das UC2-System erlaubt es uns, zu geringen Kosten ein hochqualitatives Mikroskop herzustellen, mit dem wir in einem Inkubator lebende Zellen beobachten können“, berichtet er. Damit erschließt UC2 Einsatzgebiete für die biomedizinische Forschung, für die sich herkömmliche Mikroskope nicht eignen. „Kommerzielle Mikroskope, mit denen sich Pathogene über einen längeren Zeitraum untersuchen lassen, kosten das Hundert- bis Tausendfache unseres UC2-Aufbaus“, so Benedict Diederich, Doktorand am Leibniz-IPHT, der den optischen Baukasten dort gemeinsam mit René Lachmann entwickelte. „Die schleust man kaum in ein kontaminiertes Labor ein, aus dem man sie gegebenenfalls nicht mehr herausholen kann, weil die Reinigung nicht ohne Weiteres möglich ist.“ Das aus Kunststoff hergestellte UC2-Mikroskop hingegen ließe sich nach erfolgreichem Einsatz im biologischen Sicherheitslabor einfach verbrennen oder recyceln. Für eine Studie am Universitätsklinikum Jena hat das UC2-Team über einen Zeitraum von einer Woche die Entwicklung von Monozyten zu Makrophagen im Inkubator beobachtet, um das Wachstums- und Ernährungsverhalten dieser Fresszellen des Immunsystems zu untersuchen.

Bauen nach dem Lego-Prinzip: Schnell von der Idee zum Prototyp

Bauen nach dem Lego-Prinzip — das weckt nicht nur den inneren Spieltrieb der Nutzenden, beobachtet das UC2-Team, sondern eröffnet Forschenden auch neue Möglichkeiten, sich ein Werkzeug genau für ihre Forschungsfrage maßzuschneidern. „Mit unserer Methode lässt sich schnell das passende Gerät zusammenstellen, um bestimmte Zellen abzubilden“, erläutert Benedict Diederich. „Wird beispielsweise eine rote Wellenlänge als Anregung benötigt, baut man einfach den passenden Laser ein und tauscht den Filter. Braucht man ein inverses Mikroskop, stapelt man die Würfel entsprechend.“ Mit dem UC2-System lassen sich Elemente je nach benötigter Auflösung, Stabilität, Dauer oder Mikroskopiemethode kombinieren und im „Rapid Prototyping“-Verfahren direkt testen.

Die Vision: Offene Wissenschaft

Baupläne und Software archivieren die Forschenden auf dem frei zugänglichen Online-Repositorium GitHub, so dass jeder weltweit darauf zugreifen, die Aufbauten nachbauen, umändern und erweitern kann. „Mit dem Feedback der Nutzenden verbessern wir das System Stück für Stück und ergänzen es um immer neue kreative Lösungen“, berichtet René Lachmann. Die ersten Nutzer hätten bereits begonnen, das System für sich und ihre Zwecke selbstständig zu erweitern. „Wir sind gespannt, wann wir die ersten Benutzerlösungen vorstellen können.“

Dahinter steht das Ziel, eine offene Wissenschaft zu ermöglichen. Dank der ausführlichen Dokumentation können Forschende überall auf der Welt, auch jenseits gut ausgestatteter Labore, Experimente reproduzieren und weiterentwickeln. „Change in Paradigm: Science for a Dime“, nennt Benedict Diederich diese Vision: einen Paradigmenwechsel einläuten, in dem der wissenschaftliche Prozess möglichst offen und transparent allen frei zugänglich ist und Forscherinnen und Forscher ihr Wissen miteinander teilen und in ihre Arbeit einfließen lassen.

UC2-Experimentierbox holt Wissenschaft an die Schulen

Um auch jenseits der wissenschaftlichen Community junge Menschen für Optik zu begeistern, hat das Forschungsteam einen Baukasten speziell für die Ausbildung an Schulen und Universitäten entwickelt. „UC2: The Box“ enthält einen ausgeklügelten Bausatz, mit dem Nutzende optische Konzepte und Mikroskopie-Methoden kennenlernen und ausprobieren können. „Die Bauteile lassen sich zum Projektor oder zum Teleskop kombinieren; man kann sich ein Spektrometer oder ein Smartphone-Mikroskop bauen“, erläutert Barbora Maršíková, die die Experimente erarbeitet und mit dem UC2-Team in mehreren Workshops in Jena über die USA, Großbritannien und Norwegen getestet hat. In Jena haben die jungen Forschenden ihr Baukasten bereits an mehreren Schulen eingesetzt und beispielsweise Schüler dabei unterstützt, sich ein Fluoreszenz-Mikroskop zu bauen, um Mikroplastik nachzuweisen. „Wir haben UC2 mit unserem Smartphone kombiniert. So konnten wir ohne größeres optisches Vorwissen kostengünstig unser eigenes Mikroskop bauen und eine vergleichbar einfache Methode erarbeiten, um Plastikpartikel in Kosmetika aufzuspüren“, berichtet Emilia Walther von der Montessorischule Jena.

„Wir wollen moderne Techniken einem breiten Publikum zugänglich machen“, sagt Benedict Diederich, „und eine offene und kreative Mikroskopie-Community aufbauen.“ Gerade in den Homeschooling-Zeiten der Corona-Pandemie können sich Schülerinnen und Schüler ihre Lehrmaterialien so zu Hause einfach selber bauen.

Originalveröffentlichung

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