Für kürzere Zulassungszeiten: Neues Verfahren simuliert in 15 Minuten die Zersetzung überlagerter Arzneimittel
Neuer Ansatz stellt einen Paradigmenwechsel in der Anwendung mechanochemischer Prozesse in der organischen Chemie dar
Ein solches Verfahren wurde jüngst von Wissenschaftlern vom Leibniz-Institut für Katalyse in Rostock (LIKAT), der RWTH Aachen University und der Julius-Maximilians-Universität Würzburg, begleitet durch die Firma RD&C (Wien, Österreich), entwickelt. Die Forschungsergebnisse wurden nun in der Zeitschrift ACS Central Science veröffentlicht.
Praktisch alle Arzneimittel sind Mehrkomponenten- oder Mehrphasensysteme, die in eine Matrix eingebettet sind, also zum Beispiel Hilfs- und Trägerstoffe enthalten. Diese Zusatzstoffe können mit der Zeit, etwa bei längerer Lagerung der Arzneimittel, mit dem Wirkstoff in Wechselwirkung treten und die Wirkung des Arzneimittels beeinträchtigen. Die pharmazeutische Industrie muss vor der Zulassung eines neuen Arzneimittels sämtliche Daten zur Stabilität offenlegen, weshalb ein erhebliches Interesse an der Entwicklung zuverlässiger Vorhersageinstrumente zur Einschätzung der Sicherheit von Arzneimitteln besteht.
Aktuell sind solche Prognoseinstrumente für Festkörpereigenschaften, insbesondere im Hinblick auf Festkörperstabilität und -abbau jedoch nur begrenzt verfügbar. Außerdem sind die Geschwindigkeit und die Zersetzungsprodukte von Festkörperabbauprozessen für jede Verbindung einzigartig, was die Entwicklung von Stabilitätsmodellen sehr zeit- und kostenaufwendig macht. Es gibt Vorhersagemethoden in wässriger Umgebung, die allerdings zu hohen Fehlerquoten führen. Da unter diesen Bedingungen oft nicht relevante Abbauprodukte gebildet werden, bedeuten diese Vorhersagemethoden für den Hersteller neuer Arzneimittel und für den Kunden ein hohes finanzielles und gesundheitliches Entwicklungsrisiko.
Auf der Grundlage von Proof-of-Concept-Studien, die von RD&C und dem Team erfolgreich durchgeführt wurden, konnte nun eine bisher einzigartige und innovative experimentelle Methode zur Vorhersage von Stabilitätsprofilen und Abbaupfaden in festen Verbindungen, Mischungen und Matrices entwickelt werden. In der Literatur wird der Ansatz als Mechanochemie bezeichnet. Dabei wird der isolierte Wirkstoff oder das auf dem Markt erhältliche pharmazeutische Produkt in einer Schwingmühle in Gegenwart eines die Zersetzung induzierenden Reagenz behandelt. Innerhalb von weniger als 15 Minuten können Abbauprozesse beobachtet werden. Everaldo Krake (LIKAT Rostock), Erstautor der Studie und frisch promovierter Nachwuchswissenschaftler, führt aus: „Wir konnten dies an einer Reihe strukturell ähnlicher sogenannter Thienopyridine, das sind die Arzneistoffe in den Thrombozytenaggregationshemmer-Tabletten, zeigen. Entscheidend für den Erfolg war die Zusammenarbeit mit der Gruppe um Carsten Bolm (RWTH Aachen), einem weltweit führenden Experten auf dem Gebiet der Mechanochemie, und dem Team von Ulrike Holzgrabe (Universität Würzburg), einer renommierten pharmazeutischen Chemikerin“ Dabei zeigte sich, dass die Abbauprofile sowohl für den reinen Arzneistoff als auch das fertige pharmazeutische Produkt identisch sind. Das bedeutet, dass reproduzierbare und relevante Aussagen für diese Klasse von Arzneimitteln bereits in kurzen Reaktionszeiten allein mit dem Wirkstoff erstellt werden können. Für eine beschleunigte Zulassung von Arzneimitteln wäre dies von großer Bedeutung.
Dieser neue Ansatz stellt nach dem Urteil der Autor/innen einen Paradigmenwechsel in der Anwendung mechanochemischer Prozesse in der organischen Chemie dar. „Im Allgemeinen werden mechanochemische Studien zur Umwandlung kleiner organischer Moleküle, insbesondere von Arzneimitteln, mit dem Ziel durchgeführt, bestimmte strukturelle Motive herzustellen. Die neue nun erschienene Arbeit unterstreicht das Potential dieses Ansatzes, auch gezielt spezifische strukturelle Motive abzubauen“, so Carsten Bolm. Dies könnte nicht nur für die Arzneimittelprüfung, sondern auch für die organische Synthese im Allgemeinen von Bedeutung sein. „Zukünftig wird es interessant sein, diesen mechanochemischen Ansatz auch auf andere Wirkstofffamilien zu übertragen und die Rolle anderer Stimuli wie Licht oder Temperatur für den erzwungenen Abbauprozess zu bewerten“, fasst Ulrike Holzgrabe zusammen.