Gefrorenes Edelgas im Beschleuniger

29.05.2024

Forschende am European XFEL in Schenefeld bei Hamburg haben die Bildung von Kristallisationskeimen in unterkühlten Flüssigkeiten unter die Lupe genommen. Die Entstehung erster Kristalle setzt demnach deutlich später ein als bislang vermutet. Die Erkenntnisse könnte helfen, die Eisbildung in Wolken besser zu verstehen sowie manche Vorgänge im Inneren der Erde exakter zu beschreiben.

© European XFEL

Röntgenbild eines Kristalls. Das Beugungsmuster ergibt sich aus 34.000 einzelnen Aufnahmen eines Kryptonstrahls kurz nach Beginn der Kristallkeimbildung. Die Ringe zeigen die Röntgenstreuung an bestimmten Molekülebenen innerhalb der kleinen Kristalle an.

Jedes Kind weiß, dass Wasser zu Eis gefriert, wenn es kalt wird und die Temperatur unter den Gefrierpunkt sinkt. Bei Wasser ist das normalerweise Null Grad Celsius. Das ist ein Fixpunkt der bei uns gebräuchlichen Celsius-Temperaturskala.

Der Übergang von der flüssigen zur festen Phase ist allerdings ein sehr komplexer Prozess und kann auf atomarer Ebene nur schwer experimentell untersuchen werden. Ein Grund dafür ist, dass die ersten Kristalle nach dem Zufallsprinzip entstehen: Man weiß nicht, wann und wo genau es passieren wird. Zudem kann sich eine Flüssigkeit noch lange in einem metastabilen Zustand befinden: Sie bleibt flüssig, obwohl sie so kalt ist, dass sie eigentlich gefrieren und fest werden sollte. Das macht es außerordentlich schwer, den richtigen Moment abzupassen, in dem sich in einem vorgegebenen Volumen ein Kristall bildet, und dessen Entstehung dann genau unter die Lupe zu nehmen.

Diese Effekte haben in der Natur aber eine große Relevanz. Sie spielen beispielsweise bei der Eisbildung in Wolken eine entscheidende Rolle oder bei Vorgängen im Inneren der Erde.
Mit den intensiven Röntgenblitzen des Freien-Elektronen-Röntgenlasers des European XFEL ist es einem internationalen Forscherteam am European XFEL in Schenefeld bei Hamburg nun gelungen, die Keimbildung unterkühlter Flüssigkeiten genau zu vermessen. Damit das Röntgenlicht nicht mit den Molekülen der Luft wechselwirkt, was die Experimente stören würde, finden die Versuche im Vakuum statt. Und da Wasser aufgrund seiner physikalischen Eigenschaften eine der kompliziertesten Flüssigkeiten ist, verwendeten die Forschenden für ihre Versuche Argon respektive Krypton in flüssiger Form. Auch, weil derzeit nur für diese unterkühlten Edelgase zuverlässige theoretische Vorhersagen möglich sind.

Explizit untersuchten die Forschenden die sogenannte Kristallkeimbildungsrate J(T). Das ist ein Maß für die Wahrscheinlichkeit, dass sich in einer gewissen Zeit in einem gewissen Raumvolumen ein Kristall bildet. Die Rate, wie schnell das passiert, ist eine wichtige Größe, beispielsweise um in Modellen reale Prozesse mathematisch beschreiben zu können – in der Wettervorhersage beispielsweise oder in Klimamodellen.

Da die Messung realer Kristallbildung so schwierig ist, wird oft auf Simulationen zurückgegriffen. Die sind jedoch mit großen Unsicherheiten verbunden. Beispielsweise können die für Wasser simulierten Keimbildungsraten um einige Größenordnungen von den experimentell gemessenen abweichen, was die Modelle ungenau macht.

Der Röntgenlaser European XFEL ist jetzt wie geschaffen für Untersuchungen dieser Art: Mit Hilfe seiner intensiven Röntgenblitze können Forschende die oft sehr raschen Veränderungen bei der Entwicklung des Kristallisationsprozesses in Flüssigkeiten untersuchen.

Für ihre Experimente hat das Team die MID-Experimentierstation (MID = Materials Imaging and Dynamics) gewählt. Dort beschossen sie die Flüssigkeitsjets aus Argon respektive Krypton mit Röntgenpulsen, die eine Energie von 9,7 Kiloelektronenvolt (keV) hatten. Jeder Röntgenpuls dauerte weniger als 25 Femtosekunden – eine Femtosekunde entspricht dabei dem billiardstel Teil einer Sekunde. Zur Veranschaulichung: Licht legt in dieser Zeit weniger als einen Millimeter zurück.

Das intensive Röntgenlicht lenkten die Experimentierenden auf den nur 3,5 Mikrometer dünnen Flüssigkeitsstrahl, wobei die Messfläche einen Durchmesser von weniger als ein Mikrometer hatte. Insgesamt nahm das Team mehrere Millionen Beugungsbilder auf, um auf eine ausreichende Statistik zu kommen und die Rate der Bildung von Kristallen ausreichend genau bestimmen zu können.

Demnach sind die Kristallkeimbildungsraten viel kleiner als die auf der Grundlage von Simulationen vorhergesagten. „Die Untersuchung verspricht, unser Verständnis der Kristallisation deutlich zu erweitern“, sagt Johannes Möller von der European XFEL, Experimentierstation MID. „Die Ergebnisse zeigen, dass die vielfach genutzte klassische Theorie der Entstehung von Kristallen aus der flüssigen Phase deutlich von der Realität abweicht“, erläutert Möller. „Wir gehen davon aus, dass unser Ansatz es erstmals ermöglichen wird, verschiedene Erweiterungen der klassischen Theorie zur Vorhersage der Kristallisation zu testen“, ergänzt Robert Grisenti vom GSI Helmholtzzentrum für Schwerionenforschung GmbH, einer der Hauptautoren der Studie. „Unsere Erkenntnisse helfen den Theoretikern, künftig noch bessere Modelle zu entwickeln.“

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