Europas biologischer Vielfalt auf der Spur

Forschende aus 33 Ländern erstellen Referenzgenome von 98 Arten

19.09.2024
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In einer neuen wissenschaftlichen Veröffentlichung gibt der European Reference Genome Atlas (ERGA) den Erfolg seines Pilotprojekts bekannt. ERGA baute ein großes Kooperationsnetzwerk von Wissenschaftler:innen und Institutionen aus 33 Ländern auf, um hochwertige Referenzgenome von 98 europäischen Arten zu erstellen. Das Pilotprojekt brachte wertvolle Erkenntnisse und zeigte die wichtigsten Herausforderungen für ein solches Vorhaben auf, sodass es als Modell für dezentrale, integrative und gleichberechtigte Initiativen in der Biodiversitätsgenomik auf der ganzen Welt dienen kann.

Zu den Meilensteinen des Projekts gehören die ersten Genom-Assemblierungen auf Chromosomenebene – bei diesem Vorgang werden die Nukleotidsequenzen in die richtige Reihenfolge gebracht – von Arten aus Griechenland, einem der Länder mit der größten biologischen Vielfalt in Europa. Arten wie die Kreta-Mauereidechse (Podarcis cretensis) und der Aristoteles-Wels (Silurus aristotelis) wurden von einheimischen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern in Griechenland beprobt, um Genome zu erstellen, die nun für jedermann auf der ganzen Welt frei zugänglich sind und untersucht werden können. Dies sind nur zwei Beispiele dafür, was erreicht werden kann, wenn sich eine internationale Gemeinschaft von Forschenden zur biologischen Vielfalt zusammenschließt und die Zusammenarbeit innerhalb von und zwischen Ländern fördert. Das ERGA-Pilotprojekt legte den Schwerpunkt auf Gleichberechtigung und Inklusion – mit dem Ziel, dass die Genomforschung und die dafür notwendigen Ressourcen für alle zugänglich sind, unabhängig von geografischen Grenzen. Für viele der teilnehmenden Wissenschaftler:innen und Länder bot das Projekt zum ersten Mal die Möglichkeit, aktiv an der Erstellung von Referenzgenomen mitzuwirken und hochmoderne Ressourcen zur „Kartierung“ ihrer heimischen biologischen Vielfalt zu nutzen.

Das ERGA-Pilotprojekt trägt zudem dazu bei, die wachsende Bedeutung der Genomforschung für die biologischen Vielfalt in Europa und darüber hinaus zu verdeutlichen. Genomische Daten bergen ein immenses Potenzial für Erhaltungsmaßnahmen für gefährdete Arten, aber auch für Entdeckungen zum Vorteil für die menschliche Gesundheit, Bioökonomie, Biosicherheit und für viele andere Anwendungen. Zu den im Rahmen des Projekts sequenzierten Arten gehört zum Beispiel der Goldlachs (Argentina silus), eine kommerziell wichtige Fischart aus dem Nordatlantik. Das neue Referenzgenom des Goldlachses wird es Forschenden ermöglichen, den genetischen Status von Populationen dieser Art genauer zu bewerten und letztendlich Managemententscheidungen zu treffen, die verantwortungsvolle und nachhaltige Fischereipraktiken sicherstellen.

Eine der Arten, zu denen nun ebenfalls erstmalig ein qualitativ hochwertiges Referenzgenom vorliegt, ist der Seeadler (Haliaeetus albicilla). Mit diesem Referenzgenom wird zukünftig beispielsweise möglich sein, Erbkrankheiten zu erforschen, für die bislang nur die Symptome bekannt sind. Dies gelte insbesondere für das so genannte „pinching-off syndrome“, so Greifvogel-Experte Dr. Oliver Krone vom Leibniz-IZW. Bei dieser Krankheit sind die Schwung- und Steuerfedern junger Seeadler missgebildet und machen das Fliegen unmöglich. Die Ursachen für diese Missbildung der Federn ist genetisch bedingt und wird in einem rezessiven Erbgang von beiden Elternvögel an die Jungvögel weitergegeben. Darüber hinaus gebe es viele Möglichkeiten, das Genom der Adler für phylogenetische Fragestellungen zu nutzen, so Krone weiter. Beispielsweise könnten Subpopulationen voneinander abgegrenzt oder isolierte Populationen identifiziert werden.

Überall auf der Welt gibt es ambitionierte Bestrebungen, das volle Potenzial von Genomdaten zu erschließen. Dabei spielt Vernetzung innerhalb der Wissenschaft eine entscheidende Rolle. Das ERGA- Pilotprojekt demonstriert, wie solche Kooperationsprojekte erfolgreich funktionieren und handfeste Vorteile für die biologische Vielfalt bringen können. Darüber hinaus hilft das etablierte Netzwerk Wissenschaftler:innen auf allen Karrierestufen, Möglichkeiten für die Weiterbildung, Partnerschaften und Finanzierung zu finden und auszutauschen. Das ERGA-Pilotprojekt wurde Anfang 2021 von der damaligen ERGA-Vorsitzenden Dr. Camila Mazzoni vom Leibniz-IZW und dem Berlin Center for Genomics in Biodiversity Research (BeGenDiv) mitinitiiert, die Calls mit hunderten Genomforschenden leitete, um das inklusiv und dezentral organisierte Kooperationsprojekt zu planen und aufzubauen.

ERGA ist der europäische Knoten des global aufgestellten Earth BioGenome Project (EBP). Um sein ehrgeiziges Ziel – die Sequenzierung des gesamten eukaryotischen Lebens auf der Erde – zu erreichen, braucht das EBP unbedingt eine weltweite Beteiligung und neue, dezentrale Modelle der Erstellung von Referenzgenomen. Das ERGA-Pilotprojekt konnte zeigen, dass ein vollständig verteiltes, kollaboratives und koordiniertes Modell der Genomerstellung nicht nur machbar, sondern auch effektiv ist – selbst auf kontinentaler Ebene und ohne eine zentrale Finanzierungsquelle. Der größte Teil des Projektbudgets wurde von einzelnen Mitgliedern und Partnerinstitutionen vor Ort aufgebracht, mit zusätzlicher Unterstützung durch Sequenzierungspartner und kommerzielle Sequenzierungsunternehmen, die Zuschüsse, Rabatte und Sachleistungen gewährten.

Das ERGA-Pilotprojekt trug dazu bei, die zahlreichen Herausforderungen bei der Arbeit auf internationaler Ebene zu ermitteln und Strategien für den Umgang mit diesen zu entwickeln. Zu den Herausforderungen gehören beispielsweise rechtliche und logistische Hürden des grenzüberschreitenden Transports biologischer Proben, Gefälle in der Ressourcenausstattung zwischen den Ländern und die Suche nach einem Gleichgewicht zwischen Dezentralisierung und der Notwendigkeit der Standardisierung. Eine Standardisierung ist nötig um zu gewährleisten, dass im Rahmen des Projekts nur Referenzgenome erstellt werden, die den Qualitätsstandards des EBP entsprechen.

Der dezentralisierte Ansatz von ERGA ist vielversprechend für die Zukunft der Biodiversitätsgenomik. Der Erfolg des Pilotprojekts beim Aufbau einer Eigendynamik und der Zusammenführung von Forschern zeigt die Stärke dieses Modells, schließen die Beteiligten in dem Beitrag in der Fachzeitschrift. Durch die Förderung der internationalen Zusammenarbeit und die Konzentration auf Inklusion und Gleichberechtigung setze ERGA neue Maßstäbe für die Biodiversitätsgenomik. Die im Rahmen des Pilotprojekts gewonnenen Erkenntnisse und bewältigten Herausforderungen werden die Grundlage für künftige Bemühungen bilden, um robuste und standardisierte Arbeitsabläufe und eine umfassende genomische Datenbank für Arten in Europa und darüber hinaus zu fördern.

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