Wirkstoffsuche im menschlichen Körper

Genetische Analyse von Bakterien aus Mensch und Tier öffnet Weg zu neuen Wirkstoffen

21.10.2024
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Symbolbild

Mikroorganismen besiedeln den Körper von Säugetieren nicht nur während Infektionen. Auf und in gesunden Menschen und Tieren finden sich zu jeder Zeit Milliarden von Mikroben, die über chemische Signale miteinander kommunizieren und so deren Gesundheit beeinflussen. Forschende des Helmholtz-Instituts für Pharmazeutische Forschung Saarland (HIPS) sowie der Universität und des Universitätsklinikums des Saarlandes haben nun in zwei Studien das Mikrobiom, also die Gesamtheit aller Mikroorganismen von Menschen und Zootieren, genau untersucht. Ziel war es, Ansatzpunkte für Strategien zur Behandlung und Diagnose von Erkrankungen zu identifizieren. Ihre Ergebnisse veröffentlichten die Forschenden parallel in zwei Artikeln der Fachzeitschrift Nature Communications. Das HIPS ist ein Standort des Helmholtz-Zentrums für Infektionsforschung (HZI) in Zusammenarbeit mit der Universität des Saarlandes.

Die Idee, in Mikroorganismen nach neuen Wirkstoffen zu suchen, ist nicht neu. Zahlreiche Medikamente wurden bereits auf der Basis von Naturstoffen aus Bakterien und Pilzen entwickelt. Diese konkurrieren in ihrem natürlichen Lebensraum wie dem Boden um die vorhandenen Ressourcen und nutzen chemische Signale, um sich einen Vorteil gegenüber ihren mikrobiellen Mitbewerbern zu verschaffen. Es wundert also nicht, dass ein großer Teil der auf dem Markt erhältlichen Antibiotika auf Naturstoffen aus Mikroorganismen basiert. Ein interdisziplinäres Forschungsteam am HIPS, der Universität und dem Universitätsklinikum des Saarlandes hat es sich zum Ziel gesetzt, auch nach Naturstoffen zu suchen, die zur Behandlung nicht-infektiöser Erkrankungen eingesetzt werden zu können. Statt im Boden sucht das Team direkt in den Bakterien, die Mensch und Tier besiedeln und eine Rolle bei der Entwicklung von Krankheiten spielen, nach neuen Naturstoffen. Dieses Vorgehen ist auch zentraler Bestandteil des geplanten und bei der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) in einer ersten Runde positiv begutachteten Exzellenzclusters nextAID³, dessen Vollantrag im August 2024 von der Universität des Saarlandes eingereicht wurde.

Grundlage für diese groß angelegte Suche nach neuen Wirkstoffen waren zwei Kohorten: Im Rahmen der „IMAGINE“-Studie sammelten die Forschenden fast 2.000 Proben von gesunden Proband:innen und Patient:innen mit verschiedenen Erkrankungen. Da bei unterschiedlichen Erkrankungen auch unterschiedliche Teile des Mikrobioms betroffen sein können, untersuchten die Forschenden das Mikrobiom in Speichel, Zahnbelag und Stuhl, sowie im Auge, im Hals und auf der Haut. In einer zweiten Studie untersuchte das Team das Mikrobiom von Tieren des Saarbrücker Zoos und verglich es mit dem Mikrobiom von wildlebenden Tieren. Ziel dieser deutlich kleineren Kohorte war es zu zeigen, dass auch das Mikrobiom von Tieren eine potenzielle Quelle für neue Naturstoffe sein kann. Die in beiden Studien gesammelten Proben wurden aufbereitet und einer sogenannten Metagenomsequenzierung unterzogen. Diese Methode erlaubt es, alle in einer Probe enthaltenen Lebewesen genetisch zu identifizieren und Aussagen über deren Häufigkeit zu treffen. Kommt ein Bakterium beispielsweise häufiger oder seltener vor, wenn eine bestimmte Erkrankung vorliegt, könnte es potenziell an deren Entstehung oder Verlauf beteiligt sein.

In den analysierten Daten konnte das Team um den Bioinformatiker Andreas Keller, den Mikrobiologen Sören Becker, den Pneumologen Robert Bals und den Pharmazeuten Rolf Müller zahlreiche Bakterien finden, für die ein solcher Befund zutrifft. Zusätzlich war es den Forschenden möglich, mittels bioinformatischer Analysen die genetischen Baupläne (sogenannte Biosynthese-Gencluster) von Naturstoffen zu identifizieren, die im Zusammenhang mit den untersuchten Erkrankungen stehen. „Diese Daten sind für uns eine wissenschaftliche Goldgrube. Bei den meisten der neu identifizierten Gencluster haben wir noch überhaupt keine Idee, welche Naturstoffe sich dahinter verbergen“, sagt Andreas Keller, Abteilungsleiter am HIPS und Professor für Klinische Bioinformatik an der Universität des Saarlandes. „Die Verarbeitung der gesammelten Daten erfolgt in unserer erst vor kurzem etablierten Datenbank ABC-HuMi. Dort befinden sich bereits weitere Daten der humanen Mikrobiota, die es uns erlauben werden, viele neue Naturstoffe zu entdecken und sie als Grundlage für die Entwicklung von Medikamenten zu nutzen.“

Um aus den digitalen Daten reale Naturstoffe erzeugen zu können, sind nun die Expert:innen aus Pharmazie, Biologie und Chemie am HIPS gefragt. Hier arbeiten insgesamt sechs Forschungsgruppen aktuell an der experimentellen Validierung der 50 vielversprechendsten Gencluster. „Den genetischen Bauplan eines Naturstoffes zu kennen, ist nur der erste Schritt. Wir arbeiten nun mit Hochdruck daran, die Baupläne in Bakterien zu übertragen, die sie für uns ablesen und die codierten Naturstoffe herstellen“, sagt Universitätsprofessor Rolf Müller, Abteilungsleiter und wissenschaftlicher Direktor am HIPS, der die beiden publizierten Studien mitinitiiert hat. „Die gewonnenen Daten bilden eine enorme Biodiversität ab, die bisher kaum erforscht ist. Dieses Potenzial gilt es nun zu heben. Wir freuen uns, dass wir die Technologien, die wir in den vergangenen 15 Jahren für die Entwicklung von Antibiotika etabliert haben, jetzt auch gewinnbringend in anderen Indikationen einsetzen können.“

Während der Forschungsfokus am HIPS auf antimikrobiellen Wirkstoffen liegt, sollen Therapeutika für nicht-infektiöse Erkrankungen im Rahmen des PharmaScienceHub bearbeitet werden. Die im Jahr 2023 zwischen HIPS und der Universität des Saarlandes gegründete Kooperationsplattform bringt Akteure aus akademischer Forschung und pharmazeutischer Industrie zusammen, um den Übergang von Erkenntnissen aus der Grundlagenforschung in die medizinische Anwendung voranzutreiben.

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