Jedes einzelne Elektron zählt!

FLASH-Studie zeigt Schwachstelle im Verständnis von Festkörpern

07.08.2014 - Deutschland

Trotz jahrelanger, intensiver Forschung bleiben viele ungewöhnliche elektrische, thermische und magnetische Eigenschaften moderner Materialien ein Rätsel. Eine Studie an DESYs Freie-Elektronen-Laser FLASH zeigt jetzt eine Schwachstelle in den theoretischen Beschreibungen von Feststoffen, die einem besseren Verständnis des Verhaltens von Werkstoffen im Wege steht.

„Hochtemperatur-Supraleiter sind dafür ein sehr gutes Beispiel“, sagt Michael Rübhausen, einer der leitenden Autoren der Studie und Wissenschaftler am Center for Free-Electron Laser Science (CFEL), einer Kooperation von DESY, Universität Hamburg und Max-Planck-Gesellschaft. „Obwohl wir diese Materialien nun schon fast 30 Jahre lang kennen, sind wir nicht in der Lage, sie zu verstehen, geschweige denn neue und bessere Materialien systematisch zu finden.“ Bei Unterschreitung einer bestimmten Temperatur leiten Hochtemperatur-Supraleiter Elektrizität verlustfrei und könnten daher eines Tages als energiesparende Materialien in Alltagsanwendungen zum Einsatz kommen.

Die im Fachjournal „Physical Review Letters“ veröffentlichte Studie stellt die übliche Annahme in Frage, dass einzelne Elektronen auf Materialeigenschaften wenig Einfluss haben. Die neuen Ergebnisse weisen hingegen darauf hin, dass selbst kleinste Änderungen der elektrischen Ladung in Feststoffen eine große Wirkung haben. Dieses unerwartete Ergebnis könnte Aufschluss über Hochtemperatur-Supraleitung und andere unerklärte Phänomene in modernen Materialien geben.

Elektronen in Festkörpern: einzelne oder effektive Teilchen?

Festkörper − der wohl wichtigste Materiezustand in den Materialwissenschaften − bestehen aus einem Gitter von Atomkernen, über das die Elektronen der Atome verteilt sind. Da die Zahl der Elektronen in einem Festkörper unvorstellbar hoch ist, behandeln gegenwärtige Theorien Elektronen nicht als einzelne Teilchen, sondern beschreiben sie vereinfachend durch eine kleinere Anzahl geladener „effektiver Teilchen“. „Diese Herangehensweise funktioniert gut bei vielen herkömmlichen Materialien“, erklärt Rübhausen. „Sie versagt jedoch bei modernen Materialien, die wir auch nach Jahrzehnten immer noch nicht verstanden haben.“

Um ein besseres Verständnis zu entwickeln, untersuchte das Forscherteam die Wechselwirkungen von Elektronen in sogenannten Spinleiterverbindungen, die als Modellsysteme für Hochtemperatur-Supraleiter angesehen werden können. In ihnen sind die chemischen Elemente Kupfer und Sauerstoff leiterförmig angeordnet. Zwei parallele Stränge von sich abwechselnden Kupfer- und Sauerstoffatomen bilden die Holme. Die Kupferatome auf beiden Holmen sind wiederum durch ein Sauerstoffatom verbunden, wodurch die Leitersprossen gebildet werden.

In diesen Verbindungen untersuchten die Forscher dann die Wechselwirkungen zwischen den Elektronen des Kupfers und denen der benachbarten Sauerstoffatome. Abhängig von der Ausrichtung der Leiter relativ zur FLASH-Strahlung konnten die Wissenschaftler wahlweise die Wechselwirkung zwischen Kupfer und Sauerstoff entlang der Holme oder der Sprossen der Leiter messen. Wegen der symmetrischen Anordnung der Atome ist die lokale Wechselwirkung zwischen den Elektronen in beiden Fällen im Allgemeinen gleich.

Überraschender Befund für atomare Leitern

Nach dem Konzept der effektiven Elektronen sollten die Wechselwirkungen auch dann mehr oder weniger gleich bleiben, wenn die Ladung am Sauerstoff entlang der Sprossen geringfügig verändert wird. „Die übliche Annahme ist, dass die Elektronen der Kupfer- und Sauerstoffatome durch ‚effektive Elektronen‘ am Kupfer alleine dargestellt werden können“, erklärt Andrivo Rusydi vom NUSNNI-Nanocore Institut und dem Fachbereich Physik der National University of Singapore, der zusammen mit Rübhausen die Studie geleitet hat. Demzufolge wird davon ausgegangen, dass geringfügige Veränderungen der Ladung entlang der Sprossen keinen wesentlichen Einfluss auf die effektive Ladung am Kupfer haben. „Diese Näherung ignoriert gewissermaßen die Rolle der Ladung am  Sauerstoff“, sagt Rusydi.

Beim Vergleich der atomaren Leiter mit einer anderen, in der die Sauerstoffatome der Leitersprossen ein Ladungsdefizit von einem Elektron aufwiesen, machten die Forscher dann eine überraschende Entdeckung: Die Ladungsdefizite, die auch Elektronen-Löcher genannt werden, bewirken, dass die Wechselwirkung entlang der Holme von der entlang der Leitersprossen abweicht. „Die Löcher auf den Sprossen sollten eigentlich keinen großen Unterschied machen“, erläutert Rusydi. „Unsere Daten zeigen allerdings, dass realistische Modelle ausdrücklich individuelle Ladungen des Sauerstoffs berücksichtigen müssen.“

„High Definition“ Kamera für Elektronen-Wechselwirkungen

„Unsere Arbeit deckt eine Schwachstelle in dem Konzept auf, dass eine große Zahl von Elektronen in Festkörpern durch einzelne effektive Elektronen beschrieben werden können“, erklärt Rübhausen. „Um Hochtemperatur-Supraleiter und andere moderne Materialien zu verstehen und zu entwickeln, müssen wir daher unser Verständnis vom Festkörper deutlich erweitern.“

Entscheidend für diese Entdeckung war eine einzigartige Kombination aus FLASHs intensiver Strahlung und einem neuartigen hochempfindlichen Spektrometer, das als hochauflösende Kamera die Untersuchung von Elektronen-Wechselwirkungen in den Spinleiter-Proben ermöglichte. „Wenn wir eines Tages diese Wechselwirkungen besser verstehen und sogar steuern könnten, dann wären wir möglicherweise in der Lage, komplexe Materialeigenschaften nach Wunsch herzustellen und in Anwendungen nutzbar zu machen“, sagt Rusydi. „Unser Experiment bei FLASH eröffnet einen neuen Weg zu diesem Ziel.“

Originalveröffentlichung

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