Unflexibler als gedacht
Moleküle aus aneinandergeketteten Zucker-Bausteinen, sogenannte Oligosaccharide, gehören zu den wichtigsten Molekülen in Lebewesen. Sie machen einen Grossteil der Oberfläche von Zellen aus und tragen zum Beispiel dazu bei, dass das Immunsystem körpereigene Zellen von Krankheitserregern und anderen fremden Zellen unterscheiden kann. Oligosaccharide auf der Oberfläche von Blutzellen bestimmen ausserdem unsere Blutgruppe. Und auch viele Proteine tragen Oligosaccharid-Anhängsel, die wesentlich sind für die Protein-Funktion.
Bisher dachten Wissenschaftler, dass diese Zucker-Moleküle frei beweglich sind und keine rigiden Formen bilden. Steife dreidimensionale Molekülstrukturen – von Fachleuten Sekundärstrukturen genannt – waren bislang nur von der DNA bekannt, deren Molekül eine Doppelhelix bildet, und von Proteinen, deren Teilbereiche häufig Spiralen oder kleine Flächen mit Wellblechstrukturen formen.
Ein internationales Forscherteam hat nun jedoch auch bei den Oligosacchariden solche Sekundärstrukturen gefunden. «Wir konnten zeigen, dass die Struktur von bestimmten Oligosacchariden, die den Grundbaustein Fucose enthalten, eine charakteristische Versteifung enthalten», erklärt der Leiter des Forschungsteams, Mario Schubert. Der Wissenschaftler forschte lange an der ETH Zürich und ist nun an der Universität Salzburg tätig.
Stabile Anordnung
Das neuentdeckte Sekundärstrukturelement bestimmt, wie drei im Oligosaccharid zusammenhängende Zucker-Bausteine räumlich zueinander stehen: Der erste Baustein – die Zuckerart Fucose – und der dritte Baustein liegen parallel geschichtet zueinander, während der mittlere Baustein rechtwinklig zu den beiden anderen steht. Stabilisiert wird diese Struktur durch eine chemische Wasserstoffbrückenbindung zwischen dem ersten und dem dritten Zucker-Baustein.
Diese sich über drei Bausteine erstreckende Struktur ist ein vergleichsweise kleinräumiges molekulares Muster. Zum Vergleich: Spiral-Sekundärstrukturen bei Proteinen können sich über mehrere Dutzend Protein-Bausteine erstrecken.
Dogma widerlegt
Bislang gingen Wissenschaftler davon aus, dass Wasserstoffbrückenbindungen zwischen Oligosaccharid-Bausteinen nur sehr schwach wirken und daher dort vernachlässigt werden können. Es herrschte die Lehrmeinung vor, dass bei Oligosacchariden keine Sekundärstrukturen vorkommen. «In unserer Arbeit zeigen wir nun, dass man bestimmte Wasserstoffbrückenbindungen sehr wohl berücksichtigen muss. Sie können als Zünglein an der Waage wesentlich dazu beitragen, die Zucker-Bausteine in ein rigides Korsett zu zwingen», sagt Schubert.
«Oligosaccharide mit dem neuentdeckten Strukturmuster werden von anderen Molekülen besonders gut nach dem Schlüssel-Schloss-Prinzip erkannt, weil eine starre, unflexible Struktur die molekulare Erkennung vereinfacht», sagt Schubert. Diese Schlüssel-Schloss-Erkennung von Oligosacchariden ist insbesondere bei Molekülen des Immunsystems und bei Stammzellen bedeutend. Die neue Erkenntnis hilft, die Wechselwirkungen solcher Moleküle besser zu verstehen.
Bei vielen Zuckermolekülen vorhanden
Strukturbiologen benutzen oft Computerprogramme, um die dreidimensionale Struktur von Molekülen zu bestimmen. «Diese Software muss nun ergänzt werden, damit sie auch das neue Oligosaccharid-Sekundärstrukturelement berücksichtigt», sagt Schubert.
Die Forschenden der ETH Zürich, der Universität Basel und der Ecole normale supérieure in Paris wiesen das neue Strukturelement im Experiment mittels Kernspinresonanzspektroskopie bei zwei Blutgruppen-Oligosacchariden und vier weiteren Oligosacchariden nach. Die Wissenschaftler gehen allerdings davon aus, dass das Strukturelement bei sehr vielen weiteren Zelloberflächen- und Protein-Oligosacchariden vorkommt. In einer Proteinstruktur-Datenbank fanden sie bei über 200 Oligosacchariden Hinweise auf solche Muster.
Originalveröffentlichung
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