Leitungselektronen in flagranti erwischt
Max-Planck-Forschern gelingt erste Attosekunden-Messung in Festkörpern
Gemeinsam mit Wissenschaftlern aus Österreich, Ungarn, Deutschland und Spanien hat Adrian Cavalieri (USA) Unterschiede in den Flugzeiten von Elektronen beim Durchqueren weniger Atomlagen in einem Kristall bestimmt. Dieses Experiment, das die erste Attosekunden-Messung in Festkörpern darstellt, wird auf der Titelseite der jüngsten Nature-Ausgabe gefeiert. Eine ungefähre Vorstellung davon, welche zeitlichen Dimensionen die Forscher in ihrem Versuch erschlossen haben, mag eine Vergleichsrechnung liefern: Eine Attosekunde verhält sich zu einer Sekunde wie eine Sekunde zu rund 300 Milliarden Jahren.
In modernen elektronischen Schaltkreisen werden die Elektronen von einer Mikrowellenspannung durch Nanostrukturen gejagt, der elektrische Strom wird dadurch innerhalb von Nanosekunden an- und abgeschaltet. Die durch den Mikrochip vorgegebene Schaltzeit bestimmt beispielsweise die Zahl der Rechenoperationen, die ein Computer pro Sekunde ausführen kann.
IDie Schaltgeschwindigkeit ist begrenzt durch die Zeit, die Elektronen brauchen, um durch die Strukturen zu laufen, in denen Ströme ein und ausgeschaltet werden. Dabei gilt: Je kleiner die Struktur, desto höher die erreichbare Schaltgeschwindigkeit und die Dichte des Informationsflusses. Unter anderem aus diesem Grund möchte man Schaltkreise immer kleiner gestalten. Die Entfernung zwischen benachbarten Atomen in einem Kristallgitter oder in einem Molekül ist vermutlich die kürzeste Strecke, über die elektrischer Strom Information übertragen kann. Die Zeit, die ein Elektron benötigt, um atomare Abstände zu überwinden, ist daher naturgemäß in Attosekunden getaktet. Das impliziert, dass die Richtung des elektrischen Stroms in Schaltkreisen atomarer Dimensionen prinzipiell mehr als eine Billion Mal in der Sekunde gewechselt werden könnte, also mit einer Frequenz von bis zu mehreren Petahertz - hunderttausend Mal öfter als es die heutige Elektronik erlaubt.
Der erste Schritt auf dem langen Weg zur Petahertz-Elektronik ist die Entwicklung von Techniken für die Echtzeitbeobachtung des elektrischen Ladungstransports in atomaren Strukturen - und dieser erste Schritt ist jetzt am Max-Planck-Institut für Quantenoptik gelungen: Die Forscher konnten die Bewegung von Elektronen durch wenige Atomlagen an die Oberfläche eines Festkörperkristalls in Echtzeit verfolgen.
Gemeinsam mit Mitarbeitern der Universitäten Bielefeld und Hamburg, sowie der TU Wien schickten die Wissenschaftler einen extrem ultravioletten Lichtpuls von 300 Attosekunden Dauer sowie einen Infrarot-Laserpuls aus wenigen, gut kontrollierten Schwingungen des elektrischen Felds auf die Oberfläche eines Wolframkristalls (Abbildung). Der Attosekunden-Puls dringt in den Kristall ein. Dort werden einige der im Puls transportierten Lichtpartikel (Photonen) verschluckt, wodurch sowohl lose gebundene Elektronen, die für die Leitung des elektrischen Stroms sorgen, als auch fest im Rumpf der Kristallatome gebundenen Elektronen freigesetzt werden.
Beide Arten von Elektronen werden gleichzeitig angeregt und eilen danach mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten aus einer Tiefe von einigen Atomlagen an die Oberfläche. Die Leitungselektronen bewegen sich schneller fort als die Rumpfelektronen. Sobald die Elektronen an der Oberfläche ankommen, wird ihre ursprüngliche Geschwindigkeit durch das elektrische Feld des Laserpulses modifiziert - und diese Änderung lässt sich mit einem Flugzeitdetektor nachweisen. Da sich die Feldstärke des Laserpulses extrem schnell mit der Zeit ändert (eine halbe Schwingung des Laserwelle dauert 1250 Attosekunden), hängt die Geschwindigkeitsänderung vom Zeitpunkt ab, zu dem die Elektronen die Oberfläche erreichen.
Das ultraschnell oszillierende Laserfeld verändert also kontrolliert das Tempo der Elektronen. Und mit dieser Attosekunden-Stoppuhr entdeckte das Team, dass die Leitungselektronen etwa 110 Attosekunden früher als die Rumpfelektronen die "Ziellinie" (nämlich die Kristalloberfläche) erreichen. Daraus folgt, dass die freigesetzten Leitungselektronen sich innerhalb des Kristalls doppelt so schnell bewegen wie die aus den Atomrümpfen herausgerissenen Elektronen. Das Experiment demonstriert also die technische Möglichkeit, elektrischen Ladungstransport durch Atomlagen eines Festkörpers in Echtzeit zu beobachten und ebnet damit den Weg zur Entwicklung von ultraschnellen Schaltkreisen der Zukunft.
Originalveröffentlichung: A. L. Cavalieri et al.; "Attosecond spectroscopy in condensed matter"; Nature 2007.