Das programmierte Material

Die Eigenschaften von Werkstoffen voraussagen

23.05.2019 - Schweiz

Lassen sich Eigenschaften von Komposit-Materialien vorausberechnen? Empa-Spezialisten beherrschen das und helfen damit, Forschungsziele schneller zu erreichen. Dies führt zum Beispiel zu ­besseren Recyclingverfahren und elektrisch leitenden Kunststoffen für die Solarindustrie.

JKimsey, pixabay.com, CC0

Fasern sind Erfahrungssache. Die Eigenschaften lassen sich berechnen (Symbolbild).

Ali Gooneie simuliert am Computer, was die Welt im Innersten zusammenhält, Atome, Moleküle, Molekülketten und -bündel, sowie Klumpen und Fasern, die aus diesen Bündeln entstehen. Mit seinen Berechnungen kann der Empa-Forscher Eigenschaften erklären, die wir mit unseren Fingerspitzen auch fühlen können: Glattes und Raues, biegsame und steife Materialien, Wärme leitende Stoffe und Isolatoren.

Viele dieser Eigenschaften sind bereits im Inneren der Materialien angelegt. Metall oder Holz, Kunststoff oder Keramik, Stein oder Gel – all das ist oft schon durchleuchtet worden. Doch wie verhält es sich mit Komposit-Materialien? Wie entstehen die Eigenschaften solcher Verbundwerkstoffe, und wie lassen sie sich gezielt verändern? Stilles Experimentieren im Labor reicht in der Forschungswelt nicht mehr; heute braucht es Vorausberechnungen, um schnell entscheiden zu können, welchen experimentellen Weg man einschlagen muss.

Gooneie ist einer von zahlreichen Spezialisten für Computersimulation, die an der Empa in verschiedenen Forschungsabteilungen arbeiten. Er studierte Kunststofftechnik an der Amirkabir University of Technology in Teheran und promovierte an der Montanuniversität Leoben in Österreich. «Obwohl ich nach meinem Ingenieursstudium immer tiefer in die Formelwelt der Physik eingetaucht bin, ist mir der Kontakt zur realen Welt immer geblieben», sagt Gooneie. «Simulationen sind für mich kein Selbstzweck. Ich benutze sie, um zu erklären, welche Effekte wir in Materialien beobachten können.»

Wie fühlt sich Haar an? Und warum?

Um zu verstehen, was Gooneie da berechnet, lohnt es sich, einen biologischen Polymer-Komposit-Faserwerkstoff zu betrachten, den wir alle gut kennen: Haar. Frisch gewaschen, fühlen sie sich weich und biegsam an. Wenn sie trocken sind, knistern sie elektrisch, und wenn sie nass sind, quietschen sie wie Gummi. Wir können sie zerschneiden und abreissen, versengen und in Dauerwellen legen, bleichen und zur Föhnfrisur türmen. Doch woher kommen all die Eigenschaften?

Haar besteht aus einzelnen Aminosäuren, die sich zu langkettigen Eiweissen verbinden, sogenannten Keratinen. Diese langen Keratinmoleküle lagern sich zu Fäden und Faserbündeln aneinander. Ein Komplex aus Zellmembranen verkittet die Faserbündel miteinander. Umhüllt sind diese lebenden Faserbündel von mehreren Schichten aus abgestorbenen Hornschuppen, die, ähnlich wie die Schuppen von Tannenzapfen, versetzt übereinander liegen. Die Eigenschaften von Haar wären nicht erklärbar, wenn man nur die chemischen Grundbausteine – die Aminosäuren – in Betracht ziehen würde. Das Verständnis der übergeordneten Struktur ist entscheidend.

Wir zoomen also gedanklich heraus aus der chemischen Struktur und sehen die Moleküle nur noch als Kügelchen, die wie an einer Perlenkette zusammenhängen. Nun bestimmt nicht mehr die Chemie, sondern die Kollisionen und Reibungseffekte dieser Perlenketten das Bild. Fachleute nutzen zur Berechnung grobkörnige mathematische Modelle.

Schliesslich kommen wir in eine Dimension, die wir sehen und fühlen können: den Millimeterbereich. Hier wird das Haar als homogen aufgebautes Material betrachtet – die Feinstruktur fällt nun gar nicht mehr ins Gewicht. Die makroskopischen Eigenschaften lassen sich mit der Finite-Elemente-Methode beschreiben und vorausberechnen.

Detailliertes Verständnis von Fasern

Eine derart mehrdimensionale Betrachtung gab es bis vor wenigen Jahren im Bereich der Polymer-Verbundwerkstoffe nicht. Ali Gooneie hatte mit seiner Arbeit an der Montanuniversität Leoben diese Betrachtungsweise weiterentwickelt. Das machte ihn für die Empa interessant. Der Simulationsexperte zog nach St. Gallen und forscht nun in der Abteilung «Advanced Fibers» unter der Leitung von Manfred Heuberger.

Eines der Forschungsziele Heubergers ist die Weiterentwicklung synthetischer Fasern – ein wirtschaftlich gewichtiges Thema: Rund zwei Drittel aller weltweit verwendeten Fasern werden heute synthetisch erzeugt. Eine synthetische Faser ist deutlich mehr als ein feines Kunststofffilament. Sie wird erst zur «Faser», wenn die molekulare Struktur, bestehend aus kleinen Kristallen und ausgerichteten Molekülen, auf die gewünschten Eigenschaften – etwa Flexibilität oder Zugfestigkeit – abgestimmt ist. Nur wenn die Faserstruktur von der Nanometer- bis zur Mikrometerskala bekannt ist, lassen sich die Eigenschaften des Produkts während der Verarbeitung gezielt einstellen.

Leitfähige Polymer-Verbundwerkstoffe

Mehrere Projekte hat Gooneie bereits begleitet. So ging es zum Beispiel darum, Kohlenstoff-Nanoröhrchen (CNT) in eine Polyamid-Matrix einzubetten. CNT können in der richtigen Dosierung einem Kunststoff elektrische Leitfähigkeit verleihen – was dieses Material zum Beispiel für die Fotovoltaikindustrie interessant macht. Doch wie findet sich die optimale Menge beizumischender Nanoröhrchen? Sollten alle Röhrchen die gleiche Länge haben, oder wäre eine Mischung verschiedener Längen besser?

Bislang war es unter Komposit-Forschern üblich, das Problem mit einer Reihe chemischer Versuche einzugrenzen und zu lösen. Ali Gooneie ging die Aufgabe dagegen von der theoretischen Seite her an und nutzte seine mehrdimensionale Simulationsmethode. Als Lösung ergab sich: Eine Mischung von CNT unterschiedlicher Längen erzeugt am schnellsten eine elektrische Leitfähigkeit. Schliesslich gelang es ihm auch vorauszuberechnen, in welcher Weise sich die Nanoröhrchen im Polymer anordnen werden – abhängig davon, ob die Verarbeitung schneller oder langsamer geschieht.

Gleichzeitig mit den Berechnungen schritten die Forscher zur Tat: Im heissen Extruder, bei 245 Grad Celsius, wurden die Nanoröhrchen in veränderlichen Anteilen in die Polyamid-Matrix gemischt. Die anschliessende Untersuchung zeigte, dass eine Beimischung von 0,15 Gewichtsprozent im Hinblick auf elektrische Leitfähigkeit die besten Ergebnisse brachte. Hand in Hand mit den Laborversuchen hatte angewandte Mathematik das Problem auf elegante Weise gelöst.

Schonendes PET-Recycling

Auch bei Recyclingprojekten kann Simulationsrechnung viel bewirken. Die Schweizerinnen und Schweizer sammelten 2018 fast 48 000 Tonnen PET-Flaschen. Daraus gewann die Industrie 35 000 Tonnen rezykliertes PET. Der Kunststoff ist begehrt, denn er ist mechanisch belastbar, luft- und gasdicht und kann hohe Temperaturen aushalten. Doch auch PET ist nicht beliebig oft rezyklierbar. Wird das Material allzu oft umgeschmolzen, laufen im Inneren chemische Reaktionen ab: Die Moleküle oxidieren, vernetzen sich, bilden Klumpen, das Material wird zäh und glasig.

Ein Zusatzstoff namens DOPO-PEPA könnte das ändern. Eigentlich ist das Material ein Flammschutzmittel, das von Empa-Forscher Sabyasachi Gaan, ebenfalls in der Abteilung «Advanced Fibers», entwickelt wurde. Nun wollten die Forscher ausprobieren, ob es auch als Schmier- und Schutzmittel für das PET-Recycling dienen kann. Wieder kam Gooneie zum Einsatz. Zunächst schätzte er ab, ob sich DOPO-PEPA bei der angestrebten Temperatur überhaupt ins PET hineinmischen lässt. Dann berechnete er, wie sich die Perlenkette von PET-Molekülen in der Schmelze bewegt, wie sich die DOPO-PEPA-Moleküle dazwischenlegen und wann sich ein Gleichgewicht im Stoffgemisch einstellt.

Ergebnis: Schon eine Beimischung von wenigen Prozent DOPO-PEPA genügt, um rezykliertes PET gut fliessen zu lassen. Dank höherer Mathematik an der Empa läuft also bald auch Recycling wie geschmiert.

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