Treibhausgasmessungen der Empa am Jungfraujoch zeigen lückenhafte Emissionsmeldungen
Schummelei in der Statistik?
Internationale Vereinbarungen wie das Kyoto-Protokoll zur Senkung der Treibhausgasemissionen haben meist einen Haken: Ob sich die teilnehmenden Länder daran halten, lässt sich kaum unabhängig überprüfen. So beruht die Beurteilung, ob die Länder ihre Reduktionsziele erreicht haben oder nicht, auf den offiziellen Meldungen der Länder an die UNFCCC («United Nations Framework Convention on Climate Change»). Melden sie einen geringen Ausstoß, stehen sie gut da, andernfalls am Pranger.
Das könnte sich bald ändern. Schadstoffanalysen der Empa mit einem speziellen Gaschromatograph-Massenspektrometer namens «MEDUSA» – unter anderem in der Forschungsstation Jungfraujoch auf 3580 Meter Höhe – erlauben nicht nur, die Emissionsmengen von mehr als 50 halogenierten Treibhausgasen schnell und genau abzuschätzen; sie ermöglichen es dank atmosphärischer und meteorologischer Computermodelle auch, die Emissionsquellen regional zu identifizieren. Das ernüchternde Ergebnis: Westeuropa emittiert rund doppelt so viel Trifluormethan (HFC-23) wie offiziell deklariert. Eine entsprechende Studie ist vor kurzem in der Fachzeitschrift «Geophysical Research Letters» erschienen.
«Unsere Ergebnisse zeigen, dass Messungen dieser Art tatsächlich geeignet sind, die Einhaltung internationaler Übereinkünfte zur Luftreinhaltung zu überprüfen», sagt Empa-Forscher Stefan Reimann von der Abteilung «Luftfremdstoffe/Umwelttechnik». Das Kyoto-Protokoll sähe zwar noch keine unabhängigen Kontrollmechanismen vor; in Folgevereinbarungen mit bindenden Emissionszielen könnten diese aber von zentraler Bedeutung sein.
«The ususal suspects»?
Der Verdacht, dass es einige Länder mit der Meldung ihrer Treibhausgasemissionen nicht allzu genau nehmen, stand schon länger im Raum; Hochrechnungen aus Messwerten des weltweiten AGAGE-Netzwerks («Advanced Global Atmospheric Gases Experiment») ergaben deutlich höhere Werte als offiziell ausgewiesen. «Man ging davon aus, dass vor allem China und einige Entwicklungsländer ihre Emissionen nicht korrekt meldeten», so Reimann.
Etwa den Ausstoss an HFC-23, mit einer atmosphärischen Halbwertszeit von rund 270 Jahren extrem langlebig – und erst noch knapp 15'000-mal klimaaktiver als CO2. HFC-23 entsteht als Nebenprodukt bei der Herstellung von Chlordifluormethan (HCFC-22), das als Kühl- und Schäummittel und in der Teflonproduktion Verwendung findet. Der «Vorteil» von HFC-23: Es wird praktisch nur von HCFC-22-Fabriken emittiert. Und davon gab es 2008 in Westeuropa gerade mal sechs Stück. Reimann: «Wir kennen also die Punktquellen ganz genau.»
Um die HFC-23-Mengen in der Atmosphäre über Westeuropa möglichst genau abzuschätzen, analysierten Reimann und sein Doktorand Christoph Keller von Juli 2008 bis Juli 2010 die HFC-23-Konzentrationen sowohl auf dem Jungfraujoch als auch in Mace Head, einer AGAGE-Messstation im Westen Irlands. Dabei fanden sie immer wieder rätselhafte Spitzen («Peaks»), die weit über der Durchschnittsbelastung lagen. Über atmosphärische Transportmodelle berechneten die Empa-Forscher, woher die belasteten Luftmassen kamen, die HFC-23 aufs Jungfraujoch verfrachteten – in erster Linie aus der einzigen HCFC-22-Fabrik Italiens westlich von Mailand.
«Sauberes» Italien: Seit 1996 fast keine HFC-23-Emissionen mehr gemeldet
So weit, so gut. Wären da nicht die offiziellen Zahlen aus Italien, die keine nennenswerten HFC-23-Emissionen ausweisen – und das bereits seit 1996. Ein Einzelfall? Reimann und sein Team wollten es genau wissen; sie ermittelten mit finanzieller Unterstützung des Bundesamts für Umwelt (BAFU) die HFC-23-Mengen für 2008 bis 2010 über ganz Westeuropa und lokalisierten die Quellregionen. Die Emissionen lagen rund doppelt so hoch wie die gemeldeten Werte – wobei sich die Länder in ihrer «Meldegenauigkeit» deutlich unterschieden. Neben «Spitzenreiter» Italien haben auch die Niederlande und Großbritannien ihre HFC-23-Emissionen erheblich unterschätzt; Frankreich und Deutschland lagen dagegen im Rahmen ihrer Deklaration. Und: Alle sechs HCFC-22-Fabriken konnte das Computermodell «punktgenau» identifizieren.
Insgesamt dürften sich die nicht rapportierten Mengen an «italienischem» HFC-23 auf 270'000 bis 630'000 Tonnen CO2-Äquivalent belaufen – in etwa der jährliche CO2-Ausstoß einer Stadt mit 75'000 Einwohner. «Erfreulich ist dagegen, dass wir vom Jungfraujoch aus Emissionsquellen "sehen", die mehrere hundert Kilometer entfernt sind», so Reimann. Um derartige Analysen global zu erheben, müsste allerdings das Netzwerk der Messstationen vor allem in Osteuropa und Ostasien ausgebaut werden.