Mit Barcodes der Zellentwicklung auf der Spur
Völlig neue Einblicke in die Entwicklung unterschiedlicher Gewebe sowie in die Krebsentstehung
Nicole Schuster/DKFZ
Wie entsteht die Vielzahl verschiedener Zelltypen im Blut? Diese Frage beschäftigt Wissenschaftler schon lange. Nach der klassischen Vorstellung fächern sich unterschiedliche Entwicklungslinien auf wie in einem Baum. Den Baumstamm bilden die Stammzellen, die Äste verschiedene Vorläuferzellen, aus denen sich noch mehrere unterschiedliche Zelltypen entwickeln können. Dann verzweigt es sich zu den spezialisierten Blutzellen, den roten Blutkörperchen, Blutplättchen und verschiedenen weißen Blutkörperchen, die der Immunabwehr dienen. In den letzten Jahren häuften sich jedoch die Zweifel an diesem Modell.
Hans-Reimer Rodewald, Deutsches Krebsforschungszentrum, und seine Mitarbeiter wollten statt Momentaufnahmen das dynamische Geschehen bei der Entwicklung von Blutzellen erfassen. In enger Zusammenarbeit mit dem Team um den Systembiologen Thomas Höfer haben die Wissenschaftler eine neue Technologie entwickelt, mit der sie Zellen in ihrer Entwicklung exakt verfolgen können. Dazu markieren sie Stammzellen mit einer Art genetischem Barcode, um deren Nachkommen später eindeutig identifizieren zu können.
„Genetische Barcodes sind schon in der Vergangenheit entwickelt und eingesetzt worden, basierten jedoch auf Methoden, die auch die Zelleigenschaften verändern können", so Rodewald. „Unsere Barcodes dagegen können gewebespezifisch direkt im Erbgut der Mäuse induziert werden – ohne die physiologische Entwicklung der Tiere zu beeinflussen." Grundlage dafür bildet das sogenannte Cre/loxP-System, mit dem sich speziell markierte DNA-Abschnitte umordnen oder entfernen lassen.
Weike Pei und Thorsten Feyerabend in Rodewalds Labor züchteten dazu Mäuse, die die Grundelemente des Barcodes in ihrem Genom tragen: An einer ausgewählten Stelle, an der keine Erbanlagen verschlüsselt sind, befinden sich neun kleine DNA-Schnipsel aus einer Pflanze, der Ackerschmalwand. Flankiert werden diese Elemente von insgesamt zehn genetischen Schnittstellen, loxP genannt. In den Blutstammzellen der Tiere lässt sich nun die dazu passende molekulare Schere „Cre" durch die Gabe eines Wirkstoffs aktivieren. Dann werden zufällig Code-Elemente umgeordnet oder herausgeschnitten. „Dieser genetische Zufallsgenerator kann bis zu 1,8 Millionen verschiedener genetischer Barcodes erzeugen, und wir können diejenigen Codes identifizieren, die in einem Experiment nur einmal entstehen", sagt Höfer.
„Den Rest der Arbeit übernehmen die Mäuse", sagt Rodewald. Denn wenn sich die so markierten Blutstammzellen teilen und heranreifen, bleiben die Barcodes erhalten. In Zusammenarbeit mit dem Max-Delbrück-Zentrum für molekulare Medizin haben die Wissenschaftler umfangreiche Barcode-Analysen durchgeführt, um nachzuverfolgen, von welcher Stammzelle eine bestimmte Blutzelle abstammt.
Diese Analysen haben ergeben, dass aus den Blutstammzellen der Mäuse zwei große Entwicklungsäste hervorgehen: In einem Ast entwickeln sich die T- und B-Zellen des Immunsystems. Im anderen die roten Blutkörperchen sowie verschiedene weitere weiße Blutkörperchen, etwa Granulozyten oder Monozyten. Alle diese Zelltypen können aus einer einzelnen Stammzelle entstehen. „Unsere Befunde zeigen, dass das klassische Modell eines hierarchischen Entwicklungsbaumes, der von multipotenten Stammzellen ausgeht, für die Blutbildung gilt", betont Rodewald.
Das System der Heidelberger eignet sich nicht nur dazu, die Entwicklung von Blutzellen zu untersuchen. Die Strategie lässt sich im Prinzip in jedem Gewebe anwenden. Auch der Ursprung von Leukämien und anderen Krebserkrankungen könnte sich in Zukunft auf diese Weise experimentell verfolgen lassen.
Originalveröffentlichung
Weike Pei, Thorsten B. Feyerabend, Jens Rössler, Xi Wang, Daniel Postrach, Katrin Busch, Immanuel Rode, Kay Klapproth, Nikolaus Dietlein, Claudia Quedenau, Wei Chen, Sascha Sauer, Stephan Wolf, Thomas Höfer und Hans-Reimer Rodewald; "Polylox barcoding reveals haematopoietic stem cell fates realized in vivo"; Nature; 2017